Call for Papers

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Rechtstatsachen im Privatrecht

Braucht die Privatrechtswissenschaft eine empirische Wende? Die Forderung nach einer solchen wurde bereits Anfang des 20. Jahrhunderts im deutschsprachigen Raum laut. Über hundert Jahre später ist der Stellenwert von Rechtstatsachen im Privatrecht indes noch immer ungeklärt. Die 33. Tagung der Gesellschaft Junge Zivil­rechtswissenschaft steht daher ganz im Lichte der Rechtstatsachen­forschung.

Rechtstatsachen sind all jene Tatsachen, die für die Auslegung und Anwendung des Rechts von Bedeutung sind. Die Rechtstatsachen­forschung schlägt also die Brücke von der normativ erfassbaren Rechtsdogmatik zur empirisch erfassbaren Rechtsrealität, indem sie empirische Befunde zur Auslegung und Fortbildung des Rechts fruchtbar macht. Sie bedient sich dabei der Instrumente empirischer Sozialfor­schung.

Die Akzeptanz der Rechtstatsachenforschung steht und fällt mit der Heraus­bildung einer einheitlichen, anerkannten Methode und ihrer Einbindung in die Rechtswissenschaft. Die 33. Jahrestagung der GJZ ergründet daher, welche Funktionen die Rechtstatsachenforschung in der Zivilrechtswissenschaft einnehmen kann und befasst sich mit der Entwicklung eines einheitlichen Methodenkanons. Mithilfe einer rechts­vergleichenden Betrachtung können sich erste Ansätze ergeben, schließlich sind empirical legal studies in den USA bereits eine weithin akzeptierte und praktizierte Methode. Auch ein rechtshistorischer Rückblick auf die Entwicklung der Rechtstatsachenforschung bietet wertvolle Einsichten für einen zu entwickelnden Methodenkanon. Schließlich steht im Zentrum der Tagung auch die konkrete Anwendung der Methode.

In Anerkennung der enormen Vielfalt und Breite des Generalthemas werden im Folgenden einige konkrete Ideen skizziert. Diese bieten nur einen Denkanstoß und sollen die Spannweite der eingereichten Beiträge keineswegs begrenzen.

Wirklichkeit und Dogmatik

Zunächst stellt sich die Frage, auf welche Weise die Untersuchungsergebnisse der Rechtstatsachenforschung in die „klassische“ Rechtsdogmatik eingehen können. In welcher Beziehung stehen Rechtsdogmatik und Rechtsempirie? Wie können etwa empirische Methoden in den juristischen Auslegungskanon eingebunden oder für die Ausfüllung unbestimmter Rechtsbegriffe nutzbar gemacht werden?

Wirklichkeit und materielles Recht

Jenseits der bereits angesprochenen abstrakten Frage nach dem Verhältnis zur Dogmatik bleibt zu klären, welche konkreten Einsatzfelder die Methode der Rechtstatsachenforschung in der Privatrechtswissenschaft findet. Zuvorderst stellt die Rechtstatsachen­forschung ein Instrument zur Auslegung und Konkretisierung ausfüllungs­bedürftiger Rechtsbegriffe dar. So lässt sich etwa die „unternehmerische Sorg­falt“ i.S.d. § 3 Abs. 2 UWG oder ein Handelsbrauch i.S.v. § 346 HGB im Wege der Demoskopie ermitteln. Auch an Stellen, an denen das Gesetz unbestimmte Rechtsbegriffe nicht ausdrücklich verwendet, aber implizit auf die Meinung bestimmter Verkehrskreise abstellt, können rechtstatsächliche Untersuchungen fruchtbar gemacht werden. Exemplarisch seien hier die „im Ver­kehr als wesentlich angesehene“ Eigenschaft einer Sache i.S.v. § 119 Abs. 2 BGB oder das Bestehen einer „Verkehrssitte“ im Rahmen der Auslegung nach § 157 BGB zu nennen.

Wirklichkeit und Prozessrecht

Auch das Prozessrecht bietet Ansatzpunkte für Rechtstatsachenforschung. Fragen stellen sich etwa bei einer selbstständigen Tatsachenermittlung durch das Gericht (Allgemeinkundigkeit i.S.v. § 291 ZPO), dem Umfang der Darlegungslast der Parteien, aber auch bei Erkenntnisquellen (i.S.v. § 293 S. 2 ZPO) oder den Befugnissen des Revisionsgerichts nach § 563 Abs. 3 ZPO. Außerdem spielen Rechts­tatsachen im Beweisrecht z.B. in Bezug auf Erfahrungssätze, die einen Anscheins­beweis begründen, eine Rolle.

Wirklichkeit und Digitalisierung

Weiter stellt sich die Frage nach Anspruch und Wirklichkeit des Rechts im digitalen Zeitalter. Hier kann sowohl die Digitalisierung für die Rechtstatsachen­forschung als auch die Rechtstatsachenforschung für die Digitalisierung von Nutzen sein. Einerseits können Rechtstatsachen unter Einsatz von Big-Data ermittelt und untersucht und so die Rechtstatsachenforschung digitalisiert werden. Andererseits stellen Digitalisierung und digitale Ökonomie das Privatrecht vor inhaltliche wie strukturelle Herausforderungen. So können digitale Rechtstatsachen privatrechtliche Beziehungen gestalten. Vor dem Hin­ter­grund des Art. 25 DSGVO stellt sich die Frage, ob Gestaltungen auf tatsächlicher Ebene in Form eines law by design dem Recht zur Wirksamkeit im digitalen Raum verhelfen können. Insoweit vermag gerade die Rechtstatsachen­forschung Antworten auf die wegweisende Grundsatzfrage bereitzuhalten, was die Digitalisierung für das Recht und das Recht für die Digitalisierung bedeutet.

Wirklichkeit und rechtspolitischer Diskurs

Mit allen Teilfragen eng verbunden ist die Rolle der Rechtstatsachenforschung im rechtspolitischen Diskurs. Gute Rechtssetzung bedarf profunder Vorbereitung, um komplexe soziale Systeme nicht zu zerstören. Gerade die Frage nach dem geeigneten Instrument des Gesetzgebers setzt umfassende Kenntnis des Umfelds und der Wirkungszusammenhänge voraus. Rechtstatsachenforschung ermöglicht aber nicht nur die Umsetzung von Gesetzgebungsverfahren, sie kann auch dort Platz greifen, wo bestehende gesetzliche Regelungen evaluiert werden sollen.

Mit Mitteln der empirischen Sozialforschung kann etwa beantwortet werden, ob das AGG dazu beitragen konnte, Diskriminierung zu verringern und ob das Gesetz in der Lage war, darüber hinaus gehende strukturelle Verbesserungen anzustoßen. Auch im bürgerlichen Recht stellt sich die Frage, in welchen Fallgestaltungen Ver­braucherverträge widerrufen werden und wie die konstruktive Ausgestaltung eines Widerrufsrechts die ineffiziente Durchführung von Verträgen zurückdrängen kann.

Organisatorische Hinweise

Bewerbungen sind bis zum 31. Mai 2023 an kontakt-gjz@fau.de zu richten. Sie sollen enthalten:

  • ein anonymisiertes Abstract mit maximal 500 Wörtern und
  • einen Lebenslauf.

Erfolgreiche Bewerber:innen werden eingeladen, auf der Tagung einen ca. zwanzigminütigen Vortrag zu halten. Außerdem ist beabsichtigt, die Beiträge der Eingeladenen in einem Tagungsband zu veröffentlichen. Das Manuskript ist deshalb bis zum 8. September 2023 einzureichen.